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17.03.98 |
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PSYCHOLOGIE
Sprechendes Tagebuch
Von Gerti Schön
Immer mehr US-Bürger nehmen die Tastatur mit auf die Couch: Der Psychotherapeut im Netz ist keine Seltenheit mehr.
Es klingt kaum anders als bei Doktor Sommer in der "Bravo": "Was ist los mit mir? Bin ich vielleicht lesbisch?", fragt im Online-Chat eine junge Frau, die das Interesse an ihrem Liebhaber verloren hat. Doktor Tucker-Ladd antwortet: "Wenn du diesen Mann magst, dann solltest du versuchen, auch euer Sex-Leben spannender zu machen." Und schließlich: "Lies etwas darüber. Klicke auf das Buch-Icon da unten, da drin findest du weitere Anregungen."
Doch anders als bei der pauschalen Rundumversorgung unter dem Titel "Fragen Sie Doktor Sowieso" bietet die Online-Therapie für Leute mit Alltagsproblemen eine ganze Reihe verschiedener Ansätze. Mehrere Dutzend Webseiten gibt es inzwischen, die sich ausschließlich der Online-Betreuung widmen. Beliebt sind vor allem die hosted chatrooms, bei denen ein Psychologe anwesend ist und moderiert. Selbsthilfegruppen, beispielsweise über Depressionen oder Beziehungsprobleme, haben großen Zulauf, auch Beratung bei sexuellen Problemen wird im Netz angeboten.
Die American Psychological Association (APA) hat sich in mehreren Untersuchungen mit Sinn und Zweck der Online-Therapie auseinandergesetzt. Die Beobachtung einer "online support group" über Eßstörungen ergab, daß es bei den Sitzungen hauptsächlich um Information, Erfahrungsaustausch und emotionale Unterstützung geht. "Unhealthy postings", etwa in Form von anonymen Ratschlägen über Abführmittel, seien die Ausnahme. Zufrieden stellt die Studie fest, daß auch demographische Grenzen gesprengt würden: "Da geben Teenager 35jährigen gute Ratschläge".
Dennoch stehen Amerikas Psychologenverbände der Entwicklung eher vorsichtig gegenüber. Unklar sei vor allem, ob US-Therapeuten außerhalb der Grenzen ihres Bundesstaates überhaupt behandeln dürfen und wie man den Austausch vertraulicher Informationen vor dem Zugriff unerwünschter Mit-Leser sichert.
Ein weiterer entscheidender Nachteil wird unter Amerikas Psychologen immer wieder diskutiert: "Bei der Online-Therapie fehlt natürlich die gesamte nonverbale Kommunikation, und die kann durch Smileys bestimmt nicht ersetzt werden", sagt John Grohol, ein Psychologe aus Columbus/Ohio, der die Webdienste Psych Central aufgebaut hat. Online könne man allenfalls über Probleme wie Ehekrisen oder Alltagsängste sprechen. Grohol warnt davor, Schizophrene oder Selbstmordgefährdete an einen Internet-Dienst zu verweisen. Die Therapeuten sind sich einig, daß eine Online-Beratung eine Behandlung nicht ersetzen kann. Doch sie kann ergänzend wirken, und viel Material im Internet habe, so Grohol, "erzieherischen Wert". Ganze Bücher werden im Netz publiziert. Wer mit sich hadert, kann beispielsweise zum "Psychological Self-Help" greifen, einer Art Online-Ratgeber zur Selbstdiagnose.
Viele "Shrinks", wie Psychotherapeuten in Amerika genannt werden, verlegen ihr Tätigkeitsfeld allmählich ins Virtuelle. In den USA sind Online-Einzelsitzungen inzwischen gang und gäbe. Einfach eine E-Mail an den Arzt geschickt, eine erkleckliche Summe Dollar überwiesen, und innerhalb weniger Tage ist die Antwort da.
Die Honorare, die die Therapeuten verlangen, liegen zwischen 20 und 150 Dollar (36 bis 270 Mark), je nach Region - in New York City zahlt man traditionell mehr als etwa in Nebraska. Der Vorteil: Die Prozedur ist einfacher als im wirklichen Leben. Keine Terminvergabe, kein wochenlanges Warten bei dringenden Anfragen. Und, so meint Therapeut John Grohol, manche verlieren durch den nicht-visuellen Kontakt ihre Hemmungen, sich in Behandlung zu begeben.
Manchmal sind es auch einfach pragmatische Gründe, ins virtuelle Lager zu wechseln. Die New Yorkerin Martha Ainsworth etwa vermißte auf einer langen Dienstreise nach Europa ihre wöchentliche Behandlung und suchte online nach Ersatz, "einfach so zur Streßbewältigung und Persönlichkeitsbildung", sagt sie. "Es war eine Art Tagebuch, nur daß das Tagebuch eben antwortete."
Sie nutzt die Online-Beratungen schon seit geraumer Zeit - mit wachsendem Erfolg. "In der Anfangszeit vor etwa zwei Jahren bekam man auf manche E-Mails nicht einmal eine Antwort. Einige Anbieter blieben anonym, man konnte nicht prüfen, wer dahinter steckte und welche Referenzen diese Person hatte." Deshalb gründete Martha Ainsworth "Metanoia", eine Webseite, die eine lange Liste von Online-Beratungsstellen bietet. Die Therapeuten werden vorgestellt und nach der Qualität von Präsentation und Feedback bewertet.
Besonders gut kommt dabei die Webseite des Psychologen Richard Sansbury weg. Der fügte seinem Angebot einen Link mit dem Titel "Playboy mansion" ein. Es erscheint das Bild eines dicken Babys und die Bemerkung "Hmmm. You were expecting to find a hot babe, right?" Die Bewertung von Metanoia lautet: "Mit Sicherheit der witzigste Dienst. Das allein mag schon heilsam sein".
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